1 Einführung

Zu den wirtschaftlich und demographisch dynamischeren Räumen Europas, die während der Industrialisierung eine umfassende und nachhaltige Umgestaltung der Kulturlandschaft und der Lebensverhältnisse der Menschen erfuhren, zählen vor allem Montanregionen wie das Ruhrgebiet und das Oberschlesische Industriegebiet. Oberschlesien und das Ruhrgebiet waren seit dem 19. Jh. einem rasanten sozialen Wandel und einer extremen Verstädterung ausgesetzt. Die Folgen für Raum und Gesellschaft fanden ihren Niederschlag in sozialen Problemen und konfliktreichen politischen Auseinandersetzungen. Bis heute wird die Entwicklung beider Räume, die zu den bevölkerungsreichsten Regionen in ihren Ländern zählen („Metropole Ruhr“bzw. „Oberschlesischer Metropolverband“), von den Auswirkungen der Industrialisierung geprägt.

Ziel eines von der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung (DPWS) geförderten und von der Staatsbibliothek zu Berlin unterstützten Gemeinschaftsprojekts der Ruhr-Universität Bochum und der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań war es, mit Hilfe der systematischen Auswertung topographischer Karten und Geobasisdaten kulturlandschaftlich wirksame Entwicklungslinien herauszuarbeiten, die zur Entstehung des heutigen Erscheinungsbildes beider Industrieregionen beigetragen haben (Bielecka und Medyńska-Gulij 2015). Noch Anfang des 19. Jahrhunderts zeigte sich die Landschaft in Deutschland und Polen in einem Zustand, der sich seit dem Mittelalter nur wenig verändert hatte. Orte waren nur durch wenige Straßen miteinander verbunden, die Landwirtschaft kaum rationalisiert und Flüsse mäandrierten weitgehend frei durch die Landschaft. Industrieanlagen und Eisenbahnnetze existierten noch nicht. Auch wenn das Erscheinungsbild der Erdoberfläche seit jeher ständigen Veränderungen unterliegt, so haben diese Veränderungen jedoch mit der Industrialisierung seit dem 19. Jahrhundert ein Ausmaß angenommen, das innerhalb weniger Jahrzehnte zur völligen Umgestaltung von Landschaften führte. Weite Räume der Industriezentren sind heute gekennzeichnet durch Siedlungsräume mit ausgedehnten Industrieanlagen, Gewerbegebieten, Straßen- und Schienennetzen und mit künstlichen Kanälen und begradigten Flüssen.

2 Rekonstruktion historischer Landschaften mit Karten

Frühe topographische Kartenwerke können eine wichtige Quelle für die kulturgeographische Analyse von Landschaften zu verschiedenen Zeiträumen bilden. Sie enthalten zahlreiche landschaftliche Informationen, die nicht nur einen Vergleich der heutigen Situation mit der Hochindustrialisierungsphase sondern auch mit dem vorindustriellen Zustand ermöglichen. Erste Detailstudien zu frühen topographischen Karten haben das Potenzial bereits deutlich gemacht, die solche historischen Darstellungen in landeskundlicher bzw. in kulturräumlicher Hinsicht besitzen (Lorek und Medyńska-Gulij 2019; Lorek 2010; Nilson und Lehmkuhl 2007; Römermann 2004). So lassen sich Transformationsprozesse seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts detailreich nachzeichnen und z.T. auch quantifizieren. Dazu zählen vor allem die Verstädterung in den Montangebieten, der Rückgang von Heide- und Brachflächen auf der einen Seite, aber auch großräumige Aufforstungsmaßnahmen auf der anderen Seite.

Die Auswertung multitemporaler Karteninformationen unterstützt die Rekonstruktion von historischen Zuständen der Kulturlandschaft in ihrer gesamten Komplexität von Gelände, Siedlungen, Verkehrswegen und Bodennutzung (Stams 2001) und schafft Voraussetzungen zur Aufarbeitung der kulturlandschaftlichen Entwicklung einer Region. Im Gegensatz zu nur isoliert und dispers über den Raum vorhandenen baulichen Artefakten, Bildmaterialien, Archivalien oder sonstigen Textquellen, bildet das Medium „Karte“ den Raum homogen ab und erzeugt aufgrund des großen Maßstabs „ein detailliertes Abbild der Wirklichkeit“ (Stams 1968, S.235). Topographische Karten erfassen die Erdoberfläche infolge kartographischer (klassifizierter) Erfassungskriterien und Normierungen in einer gleichbleibenden Informationsdichte. Dadurch sind nicht nur qualitative, sondern mit Hilfe der Analyse-Werkzeuge Geographischer Informationssysteme auch quantitative Aussagen über räumliche Veränderungen möglich (Wielebski und Medyńska-Gulij 2019). Der dadurch entstehende Eindruck der kulturräumlichen Situation zu einem Zeitraum des frühen 19. Jahrhunderts erlaubt es, nicht nur ehemalige Landschaftstypen zu identifizieren, sondern die heutige räumliche Situation vor dem historischen Zustand zu bewerten und Konzepte für den künftigen Umgang der Landschaft zu entwickeln (Walz und Schumacher 2011).

Historische topographische Kartenwerke können in der Aufarbeitung der landschaftlichen Entwicklung eine Schlüsselfunktion einnehmen, da sie die landschaftliche Situation zu verschiedenen Zeitpunkten oder -räumen wiedergeben (Crom 2016a, Walz und Schumacher 2011; Medyńska-Gulij und Lorek 2008). Die Blätter der heutigen Kartenwerke unterscheiden sich hinsichtlich der mathematisch-geodätischen Grundlagen zwar von denen der älteren Karten (s. Abb. 1), doch sind die Abweichungen für kulturgeographische Vergleiche kaum relevant. Topographische Karten verfügen zudem über einen großen Umfang deckungsgleicher Rauminformationen, selbst wenn sie aus verschiedenen Zeitperioden stammen und mit unterschiedlicher Technologie erstellt wurden. Daher stellen sie grundsätzlich eine geeignete Quelle zur Untersuchung der Veränderung der Flächennutzung, des Straßennetzes oder der Siedlungsstruktur dar. Voraussetzung ist jedoch die fachwissenschaftliche Berücksichtigung der unterschiedlichen Legendenklassifikationen (Qualitäten), Raumbezugssysteme (Quantitäten), Gestaltungsformen (Graphik) und gesellschaftlichen Entstehungskontexte (Zeit). Vor einer inhaltlichen Auswertung müssen daher entsprechende Anpassungen vorgenommen werden, um vergleichbare Übereinstimmungen des dargestellten Inhalts zu erzielen. Das heißt, in thematischer Hinsicht ist zum Beispiel zu klären, was in einem frühen Kartenwerk exakt unter dem in der Zeichenerklärung genannten Begriff „Wald“verstanden wird. Darüber hinaus ist in geometrischer Hinsicht wiederum zu gewährleisten, dass Lage und Größe von Waldflächen zwischen den zeitlich unterschiedlich anzusetzenden Kartenwerken vergleichbar sind (ausführlicher bei Lorek et al. 2018, S.8 f.).

Abb. 1
figure 1

Vergleich zwischen einem preußischen Urmesstischblatt (1827) (links) und der deutlich detailreicheren und geodätisch exakteren Neuaufnahme (1894) (Blatt 2577 [4905] Bochum (rechts); Originalmaßstab 1:25.000

2.1 Kartengrundlagen

Die wichtigsten Quellenmaterialien für die systematische Untersuchung der kulturlandschaftlichen Entwicklung sind topographische Kartenwerke, die drei Zustände der räumlichen Ordnung seit den 1820er Jahren bis heute widerspiegeln:

  1. (a)

    die frühe preußische topographische Landeskarte im Maßstab 1:25.000, die später sogenannten „Urmesstischblätter“ mit dem Zustand des topographischen Raumes der späten 1820er Jahre für den westlichen und zentralen Teil des Oberschlesischen Industriegebietes (16 Blätter) und für das Ruhrgebiet der 1830er und 1840er Jahre (20 Blätter);

  2. (b)

    die nachfolgende preußische topographische Neuaufnahme im Maßstab 1:25.000 („Messtischblätter“), die den Zustand des topographischen Raumes in den 1880er Jahren wiedergibt;

  3. (c)

    das aktuelle deutsche topographische Landeskartenwerk (Digitale Topographische Karte 1:50.000, DTK 50) mit dem Stand um 2015 sowie die polnische topographische Landeskarte im Koordinatensystem (WGS-84) für das oberschlesische Industriegebiet (Metropolregion GOP) im Maßstab 1:50.000 mit dem Stand von 2011.

Der Vorteil auch älterer Landeskartenwerke liegt in der hohen Vergleichbarkeit der einzelnen Blätter untereinander, da für ihre Herstellung eine weitgehend einheitliche Legende genutzt wurde. Karteninformationen eines Kartenblatts aus Oberschlesien wurden nach den gleichen Regeln mit Hilfe von Kartenzeichen kodiert wie die aus dem Ruhrgebiet. Dies verdeutlicht die Abb. 2, in der die Ausschnitte der Urmesstischblätter der heutigen Stadt Bytom (ehem. Beuthen) im Oberschlesischen Industrierevier und der Ruhrgebietsstadt Bochum aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wiedergegeben werden.

Abb. 2
figure 2

Ausschnitt aus dem kolorierten Original-Urmesstischblatt 3309 Beuthen von 1827 (heutiges Bytom); rechts: Ausschnitt des Blatts 2577 Bochum aus dem Jahre 1840—Höhendarstellung erfolgte noch mit Hilfe von Schraffen

Aufgrund dieser Karten- bzw. Geodatenbestände, die flächendeckend zur Verfügung stehen, können für eine kulturgeographische Auswertung folgende Zeiträume analysiert werden (vgl.a. Kleinn 1977):

  • Vorindustrielle Phase Beginn des 19. Jh. (ca. 1822–50)

  • Hochindustrielle Phase Ende 19. Jh. (ca. 1890)

  • Alt- bzw. postindustrielle Phase (Gegenwart)

Zur Zeit der ersten genaueren kartographischen Erfassung des preußischen Staats ab 1822 standen weite Gebiete des heutigen Polens unter preußischer Herrschaft. Sie wurden folglich in die frühe Form der topographischen Landesaufnahme einbezogen, die den gesamten damaligen Staat Preußen umfasste. Unter der Leitung des damaligen preußischen Generalstabschefs, Karl von Müffling, wurden für die flächendeckende topographische Erfassung und Kartierung des Geländes umfassende Messtisch-Aufnahmen durchgeführt, mit denen rund 2000 Kartenblätter erstellt wurden (Schroeder-Hohenwarth 1958). Die Kartenherstellung stützte sich auf ein vergleichsweise grobes Netz von Triangulationspunkten. Als Nullmeridian der geographischen Koordinaten diente dabei noch die kanarische Insel Ferro (heute El Hierro). Heute steht ein grenzübergreifendes und vergleichsweise exaktes historisches Kartenwerk zu Verfügung, das den Landschaftszustand noch weitgehend vor dem Beginn der Industrialisierung dokumentiert (Klemp 2000) (Abb. 3, 4).

Abb. 3
figure 3

Detailansicht einer Ansiedlung in einem kolorierten Urmesstischblatt (Blatt 3351 Kieferstaedtel in der Nähe von Gleiwitz) im Jahr 1828; weiß/beige = landwirtschaftliche Flächen, grün/hellgrün = Gärten/Wiesen, rot = Steingebäude, grau = Holzgebäude, rote Kranzsignatur = Wassermühlen, orange = Weinanbau

Abb. 4
figure 4

Detailansicht einer noch in ländlicher Umgebung gelegenen Steinkohlengrube (mit Schrift und Signatur) und einer frühen „Hütte“ bei Katowice (Original-Urmesstischblatt 3354 Kattowitz von 1827)

Bis zur Wiedervereinigung Deutschlands wurden die „Urmesstischblätter“ an verschiedenen Stellen in West- und Ostdeutschland gelagert. Eine intensivere wissenschaftliche Aufarbeitung war daher nur sehr begrenzt möglich. Umgekehrt bestand auch für polnische Nutzer keine Zugriffsmöglichkeit auf das vollständige Kartenwerk. Bei den einzelnen Blättern des über 2000 Exemplare umfassenden Gesamtbestands, der zwischen 1822 und 1850 erstellt wurde, handelt es sich um handgezeichnete und mit Wasserfarben kolorierte Unikate, die zunächst ausschließlich militärischen Zwecken dienten und nicht zur Veröffentlichung vorgesehen waren. Wie damals in ganz Europa üblich (Medyńska-Gulij und Zuchowski 2018), sollten sie lediglich als Grundlage für die Erstellung eines kleinmaßstäbigeren Kartenwerks dienen (Kleinn 1977; vgl. a. Zögner und Zögner 1981; Schroeder-Hohenwarth 1958).

Erst seit der politischen Wende zu Beginn der 1990er Jahre besteht uneingeschränkter Zugriff auf die kolorierten Originalkarten der Urmesstischblätter (s. Abb. 1 bis 4). Vor der Übertragung an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz standen die Kartenblätter nur in begrenztem Umfang und zudem lediglich als Schwarz-Weiß-Kopien für Nutzer aus dem Westen zur Verfügung (Kleinn 1977; Kraus 1969; Engelmann 1968). Heute befinden sie sich in der Staatsbibliothek Berlin und werden seit den 1990er Jahren nach und nach auch farbig reproduziert. Für die Bearbeitung konnten auf hochauflösende Kartenvorlagen des Fachinformationsdienstes Kartographie und Geobasisdaten der Kartenabteilung der Staatsbibliothek Berlin (Crom 2016b) zurückgegriffen werden sowie auf die jüngsten (digitalen) topographischen Karten aus Nordrhein-Westfalen und Oberschlesien.

Während vergleichbare frühe topographische Kartenwerke, etwa Tranchot/von Müffling-Karten für die preußische Rheinprovinz (Rheinland) bereits Gegenstand quellenkritischer Analysen und Dokumentationen (insbesondere von Müller-Miny 1975, 1980 und Schmidt 1973) und intensiverer kultur- und siedlungsgeschichtlicher Auswertungen (Kuphal 1930) oder auch physischgeographischer Analysen (Nilson und Lehmkuhl 2007; Nilson 2006; Römermann 2004) waren, wurde der Gesamtbestand der frühen preußischen topographischen Karten bisher kaum inhaltlich ausgewertet. Exakte Untersuchungen finden sich oft nur zu einzelnen Kartenblättern (Kleinn 1976), nicht jedoch zu themenfokussierten Auswertungen, z.B. zur quantitativen Erfassung des kultur- und sozialräumlichen Wandels ganzer Regionen. Insbesondere die topographischen Karten der preußischen Uraufnahme, die sogenannten „Urmesstischblätter“, aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellen ein Kartenarchiv dar, das bisher vergleichsweise wenig in kartographischer Hinsicht untersucht oder unter kulturgeographischen Aspekten ausgewertet wurde (Konias 2010; Engelmann 1968). Erst in jüngerer Zeit rücken die preußischen Urmesstischblätter stärker in das Blickfeld kartographischer Forschung (Lorek et al. 2018; Lorek 2011).

2.2 Aufbereitung historischer Karten

Von großem Vorteil für die wissenschaftliche Auswertung sind der große Maßstab (1:25 000) und die vergleichsweise hohe geometrische Exaktheit, die die frühen preußischen Karten bereits kennzeichnen. Dennoch sind für eine vergleichende Auswertung, die sich auf das zentrale Ruhrgebiet bzw. das westliche und mittlere Oberschlesische Industriegebiet konzentriert, umfangreiche Digitalisierungsarbeiten wie Georeferenzierungen, Vektorisierungen und Generalisierungen notwendig, um Kartenschichten übereinander anordnen und somit auch quantitative Vergleiche zwischen historischen und heutigen Landschaftssituationen vornehmen zu können (Abb. 5 und 6) (vgl. a. Schröder 2013).

Abb. 5
figure 5

Georeferenzierung alter Karten anhand markanter Geländestrukturen, z.B. Straßenkreuzungen (Lorek et al. 2018, S.43)

Abb. 6
figure 6

Vektorisierung von generalisierten Siedlungsflächen (Lorek et al. 2018, S.43). Die Siedlungsflächen umfassen Gebäude- und Gärtenflächen. Die (erfassungsgeneralisierte) Darstellung von Einzelgebäuden hat in beiden Kartenwerken repräsentativen Charakter und spiegelt nicht die Anzahl der tatsächlichen Gebäude wieder

Die inhaltliche Auswertung erfolgte quellenimmanent, d.h. nach thematischen Kriterien, die sich aus dem topographischen Inhalt der ausgewerteten Karten unmittelbar erschließen lassen, insbesondere Angaben zur Flächennutzung, Verkehrsstruktur und Bebauung. Um eine gemeinsame Legende für die Referenzkarten zu erstellen, wurden Legendenzeichen der verwendeten Unterlagenkarten zusammengeführt. Die Urmesstischblätter mit den ältesten Informationen (Mindestinformationen) bildeten die Grundlage für die Entwicklung einer zeitphasenübergreifenden Legende. Charakteristische Elemente—wie etwa Straßenverläufe des Landschaftszustandes aus der Zeit um 1830—wurden dazu jeweils auf den Karten in den beiden folgenden Zeitschnitten 1890 und 2015 identifiziert. Die Unterscheidung mehrerer Straßentypen ermöglichte es beispielsweise, bereits auf den Urmesstischblättern eine Kategorisierung der Straßen vorzunehmen

Die verbesserten Aufnahme- und Vervielfältigungstechniken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führten dazu, dass die Messtischblätter der preußischen Neuaufnahme wesentlich filigraner ausgeführte Kartengraphik enthalten konnten. Auch aufgrund des größeren Aufnahmeaufwandes, der nun betrieben werden konnte, sind deutlich mehr topographische Klein-Elemente enthalten als in den handgezeichneten Urmesstischblättern (Abb. 1). Diese abbildungsbedingte Differenz im Informationsangebot führt dazu, dass sich quantitative Vergleiche auf Objektgruppen wie Siedlungs- und Waldflächen oder auch auf größere Straßen- und Gewässerlinien beschränken müssen. Die Abfolge der Vektorisierungs- und Generalisierungsschritte der topographischen Linien- und Flächenelemente erfolgte zeitlich rückschreitend und aufgrund der heute für die polnische Region zur Verfügung stehenden topographischen Karten im Maßstab 1:50.000. Beginnend mit den heutigen Kartenwerken erfolgte also zunächst ein Abgleich mit den Messtischblättern der preußischen Neuaufnahme, anschließend mit den älteren Urmesstischblättern. Im Mittelpunkt stand die Erstellung einer Referenzkarte, die über gleiche kartographische Eigenschaften und topographische Inhalte für das deutsche und das polnische Gebiet verfügt (Abb. 7). Sie bildet die Basis, auf der räumliche Vergleiche der Kulturlandschaft zwischen 1830, 1890 und 2015 vorgenommen werden können.

Abb. 7
figure 7

Inhaltliche Layer der für die vergleichende Analyse entwickelten Referenzkarte (web mapping application, http://cartolandscape.amu.edu.pl/)

Insgesamt wurden somit für die Aufbereitung der Kartengrundlagen und für die Schaffung einer Referenzkarte mehrere Schritte notwendig (nach Lorek et al. 2018):

  • Integration von „Urmesstischblättern“und „Messtischblättern“(Neuaufnahme) in ein Geographisches Informationssystem;

  • Georeferenzierung der Einzelbätter (blattschnittfreie Zusammenstellung);

  • Selektion kartenwerkübergreifender topographischer Inhalte;

  • Konzeption einer Referenzkarte (1: 50.000);

  • Vektorisierung und Generalisierung ausgewählter topographischer Inhalte im Maßstab 1: 50.000 für die Erstellung einer Referenzkarte.

3 Das Analyse-Potenzial

3.1 Vergleichskarten

Die Dynamik in der Landnutzung, die in der Folge des sozioökonomischen Wandels der industriellen Revolution einsetzte, zeigt sich in der systematischen Kartenauswertung. Die Originalkarten dokumentieren persistente Raumelemente wie alte Wege, Grenzen oder Flussverläufe, die leitende Strukturen für die städtische Überprägung der einst vollständig agrarischen Räume waren. Die Ergebnisse wurden für eine vergleichende Präsentation durch eine interaktive Webkarte aufbereitet (vgl. a. Crom 2016a; Dickmann und Kollecker 2013). Unter der URL http://cartolandscape.amu.edu.pl/ stehen die Resultate mehrsprachig (deutsch, polnisch, englisch) zum Abruf bereit. Neben interaktiven Kartendarstellungen und statistischen Kartogrammen dienen auch kartographische Sekundärmedien in Form von Grafiken und Diagrammen der individualisierten Abfrage (Dickmann 2018, S.15).

Bereits die einfache visuelle Auswertung der drei Zeitschnitte verdeutlicht den massiven Landschaftswandel, den das Ruhrgebiet und die Oberschlesische Metropolregion in der Vergangenheit infolge der Industrialisierungsprozesse durchlaufen haben. Das Ruhrgebiet entwickelte sich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zum größten Industrieraum Deutschlands (4.435 km2), dessen tragende Säulen die Kohlevorkommen und die Schwerindustrie bildeten. Außer den mittelalterlichen Handelsstädten Essen und Dortmund und einigen kleinen Marktstätten (z.B. Witten) entlang der Hellwegzone kennzeichneten vor allem Landwirtschaft und Kleingewerbe das Ruhrgebiet (Gebhardt 2007). Dies trifft gleichermaßen auf den Raum des späteren Oberschlesischen Industriegebiets zu (Stankiewicz 2014).

Mächtige Lößdecken förderten hier die Entstehung fruchtbarer Ackerflächen, die das Ruhrgebiet bis zur Industrialisierung prägten. Die Karten zeigen auch die vergleichbare räumliche Situation in der Umgebung von Katowice, das sich in wenigen Jahrzehnten zum Zentrum des oberschlesischen Industriegebietes (1.218 km2) entwickelt. Zudem reichen agrarisch genutzte Flächen unmittelbar an die (erst teilweise als urban zu bezeichnenden) Siedlungen heran, bevor vor allem in den Jahren 1850 bis 1870 die für die Industrialisierung typischen Bergwerke, Hütten, Eisenbahnverbindungen und Arbeiterkolonien entstanden. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten sich fast alle größeren Städte zu Verwaltungszentren und unterschieden sich hinsichtlich ihrer innerstädtischen Gliederung, ihres Erscheinungsbildes und kommunaler Einrichtungen nicht von ähnlichen europäischen Industriezentren (Stankiewicz 2014).

3.2 Vergleichsberechnungen und -kartogramme

Weiterführende quantitative Auswertungen der multitemporalen Karteninformationen ermöglicht die GIS-Analyse. Die einzelnen Layer der vektorisierten Referenzkarte stellen eine Zustandsanalyse ausgewählter Landschaftskomponenten für die Jahre 1830, 1890 und 2015 dar (Abb. 7). Sie dokumentieren persistente Kulturlandschaftselemente wie alte Wege, Grenzen oder Flussverläufe, die leitend für die städtische Überprägung der einstigen Agrarlandschaften waren.

Mit Hilfe der einzelnen Datenschichten lassen sich statistische Auswertungen vornehmen. So macht die GIS-Analyse zum Beispiel deutlich, dass die zunehmende Zersiedlung in beiden Industrieregionen vor allem auf Kosten von Ackerland und Weideland stattfand. Waldflächen waren dagegen deutlich weniger betroffen. Dies zeigt zwar bereits der visuelle Kartenvergleich (s. Abb. 1 und 3), jedoch werden nun konkrete quantitative Bewertungen möglich. Selbst in der Phase der Hochindustrialisierung war der Anteil der mit Wald bestandenen Flächen im Ruhrgebiet gerade einmal auf 88,7% des Ausgangsniveaus (ca. 1830) gesunken. Heute haben die Waldflächen im Ruhrgebiet—wenngleich auch nicht in jedem Fall wieder an alter Stelle—insgesamt bereits wieder 96,3% des Ausgangsniveaus der Zeit vor der Industrialisierung erreicht. Im oberschlesischen Industriegebiet ist der Waldbestand zwar seit der Industrialisierung beständig gesunken, er umfasst heute jedoch noch 77,2% des Ausgangsbestands (Lorek et al. 2018, S. 46 u.48). Vergleichbare Berechnungen lassen sich auch für die Veränderungen des Straßennetzes oder der Siedlungsflächen durchführen.

Über solche GIS-gestützten Berechnungsmöglichkeiten hinaus lassen sich statistische Karten in Form von Felderkartogrammen (Rasternetz-Karten, Gitterchoroplethenkarten) mit farblich werteabhängigen quadratischen Rasterzellen erstellen (Wielebski und Medyńska-Gulij 2019). Die Gebiete werden hier mit einem quadratischen Gitternetz überlagert, „dessen Elemente als Bezugsfläche der Datenaggregation verwendet [werden]“(Hruby 2016, S. 60). Diese Form der Visualisierung, die eine einheitliche Erfassung z.B. von Geländedaten ermöglicht, findet vor allem in der Potenzialanalyse Anwendung (Dickmann und Sohst 2008; Koch 1974) und eignet sich zur Durchführung GIS-typischer Auswertungen (Strobl 2005; Feix 2007). Da Felderkartogramme auf geometrischen Datenbezugseinheiten basieren, lassen sie sich in der Kartographie insbesondere für die vergleichende Visualisierung von Flächendatensätzen verwenden. Die hier genutzten Felderkartogramme visualisieren mit mehrfarbigen bipolaren Skalen das Ausmaß der raumzeitlichen Veränderungen der Landschaft—und somit des sozioökonomischen Wandels—zwischen zwei bzw. auch drei Zeitschnitten. Die Abbildungen 8 und 9 zeigen die Schwerpunktbildung räumlicher Veränderungen hinsichtlich der abnehmenden Waldbedeckung am Beispiel des Ruhrgebiets und hinsichtlich der Zunahme der Siedlungstätigkeit am Beispiel des Oberschlesischen Industriegebiets.

Abb. 8
figure 8

Veränderungen des Waldbestandes im Ruhrgebiet bezogen auf 1 qkm zwischen 1830 und 1890 (bipolare Farbabstufung: blau = Rückgang; < 0,3 qkm, 0,3–0,6 qkm und > 0,6 qkm, grau = kaum Veränderung, gelb-rot = Zunahme: < 0,3 qkm, 0,3–0,6 qkm und > 0,6 qkm). (http://cartolandscape.amu.edu.pl/)

Abb. 9
figure 9

Veränderungen der Siedlungsflächen im Oberschlesischen Industriegebiet bezogen auf 1 qkm (bipolare Farbabstufung: blau = Rückgang; < 0,3 qkm, 0,3–0,6 qkm und > 0,6 qkm, grau = kaum Veränderung, gelb-rot = Zunahme: < 0,3 qkm, 0,3–0,6 qkm und > 0,6 qkm) (http://cartolandscape.amu.edu.pl/)

Somit werden nicht nur historische Landschaftszustände kartographisch rekonstruiert, sondern auch die Dynamik der Industrialisierung (inkl. der postindustriellen Phase) beider Vergleichsräume sichtbar gemacht. Für die statistischen Berechnungen wurde ein quadratisches Grundfeld mit der in der Kartographie häufig verwendeten Fläche von 1 km2 festgelegt (Tainz 2001, S.254). Der Lagefehler der Darstellungsinhalte wird somit auf die Größe des Quadrats begrenzt (vgl. Wonka 1993). Für die Visualisierung der Veränderungen zwischen den Zeitschnitten wurde eine siebenstufige Klassifikation gewählt. Die Farbskala gibt Rückgänge in blauen Abstufungen, hingegen Zuwächse in roten Abstufungen wieder. Die statistischen Karten zeigen somit, welche Teilgebiete der Vergleichsregionen in welchem Umfang von landschaftlichen Veränderungen betroffen waren (Abb. 8 und 9).

4 Ausblick

Die Auswertung historischer Kartenwerke kann eine wichtige Funktion in der Rekonstruktion von Landschaft übernehmen. Zusammen mit der Gegenüberstellung von Karten sind die quantitativen Vergleichsanalysen geeignet, zu einem besseren Verständnis der sozialräumlichen und ökonomischen Prozesse in beiden Industrieregionen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts beizutragen. Denn erst unter Einbeziehung historischer Raumkenntnisse lässt sich die heutige landschaftliche Situation in beiden Industriezentren ökosystemisch, sozioökonomisch und auch städtebaulich einordnen und bewerten. Da die Ergebnisse zu einem großen Teil über eine interaktive Webkarte zum Abruf zur Verfügung stehen, sind unmittelbare Vergleiche der Entwicklung zwischen den Zeitschnitten, aber auch zwischen beiden Regionen unmittelbar möglich. Ein wichtiger Teil der Landnutzungsdynamik, die in der Folge des sozioökonomischen Wandels der industriellen Revolution einsetzte, kann bereits anhand der Kartenauswertung vergleichsweise genau ermittelt werden.

Grundsätzlich sind jedoch auch weitere topographische Informationen (z.B. Einbindung von weiteren Geodatendiensten) und vertiefende thematische Informationen (sozioökonomische Statistiken) zu berücksichtigen, die sich aus den Kartenblättern nicht oder nur bedingt ablesen lassen. Mit der Bereitstellung eines solchen vergleichenden Kartensystems ist jedoch ein erster Grundstein für eine umfassendere kulturlandschaftliche Interpretation gelegt. Da das digitale Konzept der interaktiven Präsentation grundsätzlich flexibel angelegt ist, kann das System durch Implementierung weiterer (historischer) Kartenwerke aus angrenzenden Räumen regional wie temporal um topographische und thematische Informationen erweitert werden.

Vielversprechende Ansätze, landschaftliche Transformationsprozesse weiterführend zu analysieren und hinsichtlich sozialkonstruktivistisch ausgerichteter Landschaftsforschung aufzuarbeiten, bieten moderne Methoden wie die Virtuelle Realität zur Visualisierung historischer und aktueller Raumzustände (vgl. Edler et al. 2018a, b). Darüber hinaus eignet sich die Kombination von VR mit den Ergebnissen drohnengestützter Kartierungen dazu, Veränderungen der Gelände- und Siedlungsformen im Detail zu erfassen. Hierzu wurden im Rahmen des Projekts bereits erste Studien durchgeführt (Halik und Smaczyński 2017; Smaczyński und Medyńska-Gulij 2017).

4.1 Anmerkungen

Das Projekt wurde gefördert mit Mitteln der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung (DPWS), Projekt wspierany przez Polsko-Niemiecką Fundację na rzecz Nauki, Funded by the German-Polish Science Foundation (Projekt-Nr. 2015-35); Das Autorenteam bedankt sich bei der Bezirksregierung Köln für die Bereitstellung des ATKIS®-Basis-DLM als „Open Data (https://www.bezreg-koeln.nrw.de/brk_internet/geobasis/opendata/index.html). Die Daten unterliegen der „Datenlizenz Deutschland—Namensnennung—Version 2.0“ (http://www.govdata.de/dl-de/by-2-0). Dank gilt auch dem Fachinformationsdienst Kartographie und Geobasisdaten (FID Karten) der Kartenabteilung der Staatsbibliothek Berlin—Preußischer Kulturbesitz für die Bereitstellung historischer und aktueller Kartenvorlagen.